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Björn Kern
Der Film endet vor Mitternacht
Nicht, dass die Stadt sich besser eignen würde zum Einschlafen als andere, auch hier schlagen die gleichen Glocken wie anderswo, brausen die gleichen Motoren auf an den Straßen­kreuzungen, zerspringt in Sommer­nächten die ein oder andere Flasche Bier.
Wie in jeder Stadt kann man auch hier davon ausgehen, dass jaulende Keilriemen und ins Schloss fallende Autotüren stets den Moment abwarten, in dem einem endlich die Lider herabsinken, und wenn die Lider erschreckt wieder aufschnellen, ist man noch wacher als zuvor.
Auch die pastellgestrichenen Hausfassaden, die Giebel und Erker, die tagsüber der Stadt ihre Ruhe spenden, sind wenig hilfreich, wenn es erst dunkel ist, denn durch die Vorhänge leuchtet nur das eurogenormte Orange einer Straßenecklaterne.
Vor allem, wenn die Temperaturen nachts nicht zu fallen scheinen, wenn hochhackige Absätze auf Kopfstein den Takt der Schlaflosigkeit vorgeben und schon wieder eine neue Stechmücke in Ohrnähe kreist, dann hilft nichts außer umgehender Bettflucht.
Draußen verstopfen Horden von hormonsatten Jungmenschen die ohnehin engen Gassen, auch der Fluss bietet keine Abkühlung, sondern nur weitere Stechmücken, und spätesten, wenn an Kirche und Rathaus das Flutlicht erlischt, ist es Zeit, Höhe zu gewinnen, sich einen Überblick zu verschaffen, man sollte nicht schneller werden dabei, sonst fühlt man sich wie auf der Flucht.
Auf halber Höhe, inmitten der Weinreben, wird man nicht umhinkommen, sich ausgetrickst zu fühlen, so ruhig und verschlafen wirkt plötzlich, was einen gerade noch um den Schlaf brachte, einsam tapst man den Hügel hinauf, betrachtet das Lichtermeer im Tal wie der letzte Mensch.
Von der Burg dringen in solchen Nächten Geräusche ins Tal, Stimmen und treibende Tonfolgen und – kann das sein? – schon wieder aufbrausende Automotoren. Hinter der nächsten Biegung taucht dann die Leinwand auf, ein burgunderroter Sportwagen rast von einer Brücke und verschwindet in der Nacht. Beim Näherkommen kann Gläserklirren und Chipstütenrascheln den Soundtrack erweitern, niemand nimmt Notiz von einem, niemand dreht sich auch nur kurz nach dem Verspäteten um.
Es wirkt Wunder, sich in der letzten Reihe in den Kies zu setzen, zwischen den Rücken der Vordermänner auf die Leinwand zu starren. Mit einigem Glück rast noch immer ein Sportwagen, der inzwischen vielleicht schwarz oder blau geworden ist, und in besonders guten Nächten folgt darauf gar ein endlos ermattender Dialog von bärtigen Männern.
Es ist verbrieft, dass der knarzende Ton bald nur noch die Hinter­grund­kulisse zum eigenen Ohrensausen stellt, dass die roten und schwarzen und blauen rasenden Kisten bald zu bunten Punkten auf der eigenen Netzhaut werden, und es ist absolut gängig, sich schon bald nach hinten auf den Rücken auszustrecken, vielleicht sogar zu gähnen dabei.
Später wird einen der Filmvorführer vorsichtig wachrütteln. Die anderen Gäste werden gegangen sein. Der Vorführer wird nicht laut werden. Er wird einen nicht anschauen, als gehöre man eingeliefert. Er wird einem die Hand reichen, denn er hat Erfahrung mit dieser Art von nächtlichen Gästen. Man wird hoffnungsvoll von der Burg herabsteigen. Und zuhause schläft man dann, was man immer erst am nächsten Morgen glauben kann, tatsächlich ein.
Björn Kern   21.12.2008  
Björn Kern
Prosa