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Peter Gizzi
Über Barbara Guest
Nachwort von Peter Gizzi

Als Barbara Guest im Winter 2006 verstarb, verlor Amerika eine seiner eigenwilligsten und schöpferischsten Stimmen. Mehr als sechzig Jahre lang hatte Barbara Guest Gedichte geschrieben. Man könnte ihre Hingabe an die Kunstform durchaus ‚heroisch‘ nennen, doch lag ihre Absicht in ihren eigenen Worten eher darin, „das Ungesehene aufzurufen, ihm die Maske zu nehmen“. Und ihre Dichtung war beides: Enthüllung wie auch Geheimnis. Als Guest in der Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts in der literarischen Szene auftauchte, zeigte ihr Werk bereits Merkmale eines fortgeschrittenen Lyrizismus, der für ihre Zeitgenossen vollendet gewirkt haben musste. Wie der vorliegende Band jedoch vor Augen führt, hat ihre Dichtung in den darauf folgenden Jahrzehnten die Grenzen der Kunst mit erstaunlicher Vehemenz, Komplexität und Wagemut weiter verschoben. Mit nur zeitweiliger Anerkennung — zum größten Teil spät in ihrem Leben — blieb das Werk Barbara Guests für die Dauer ihres schriftstellerischen Lebens ganz der Avantgarde verschrieben und somit Speerspitze der Dichtung.

Ihre Dichtung lässt uns, wie große Kunst dies zu tun pflegt, Tradition hinterfragen — sie nicht als fixen kanonischen Körper verstehen, der hinter uns existiert oder uns aushält, sondern als etwas, auf das wir uns zubewegen.Wir finden sie, wenn wir eben jene Werke lesen, die ihrer Zeit, ihren Lesern oder sogar ihren Autoren voraus waren — beispielsweise in den Gedichten Emily Dickinsons oder William Carlos Williams. So uns dieses Modell von Entdeckung irgendetwas lehrt, dann doch vor allem, dass Tradition eigentlich stets vor uns liegt. Sie ist eine Herausforderung, an der wir emporwachsen.

In ihrem Essay „Verwundete Freude“ schreibt Guest „Die wichtigste Aufgabe eines Gedichts ist es, über die Seite hinauszureichen, auf dass wir uns um einen weiteren Aspekt des Kunstwerks bewusst werden… Was wir somit vorhaben, ist die Entgrenzung des Kunstwerks, und zwar so ausgeführt, dass es scheint, als habe es weder Anfang noch Ende, dass es also im Effekt die Grenzen des Gedichts auf dem Papier überrennt.“ (Forces of Imagination, 100).

Dieser Wunsch, das Gedicht räumlich und zeitlich zu entgrenzen, war für Guests Werk von Anfang an charakteristisch. Genaugenommen sind ihre Gedichte also nicht abstrakt; viel mehr platzieren sie uns, wo wir bereits sind: an der Grenze zur Bedeutung in einer von sich aus schon komprimierten, sich ständig verändernden Welt. Ihre Gedichte beginnen inmitten der Handlung, doch ihr Wahrnehmungswinkel ist angeschrägt. Auf diese Weise existiert das Gedicht wie die Welt selbst phänomenologisch; es wird ergriffen, da es entsteht, und Guest zeichnet die äußeren Linien des Kontexts dieser Bewegung, platziert das Gedicht an den Horizont unseres Verstehens.

Ihr frühes Gedicht „Fallschirme, Geliebter, könnten uns höher tragen“ ist ein klassisches Beispiel für Guests Umgang mit Paradoxem im Kontext einer komplexen emotionalen Klarheit. Die Schwebe ist die fortgeführte Metapher des Gedichts: die Schwebe des Zweifels, die Schwebe unklarer örtlicher Bezugspunkte, die Schwebe eines erwiderten Liebesgefühls, die Schwebe des Nicht-Wissens — Nicht-Wissen wie es weitergehen soll und Nicht-Wissen als menschlicher Grundzustand. Es ist ein Gedicht über das Gleiten und auch über die Wachsamkeit gegenüber den Elementen, dem Medium des Transports; ein Gedicht, das seine Wahrnehmung an jeder Ecke erneut zu überdenken bereit ist, da uns doch jede Zeile in eine andere Realität führt.Ihr Werk ist durchzogen von der gegensätzlichen Spannung zwischen Örtlichkeit und Unmöglichkeit von Verortung.

Barbara Guest wurde 1920 in Wilmington, North Carolina, als Tochter James Harveys und Ann Pinsons geboren. In ihrer Kindheit zog sie nach Florida und von dort nach Kalifornien, lebte zeitweise bei Tante und Onkel, zeitweise mit ihrer Großmutter. Guest schrieb „Ich hatte nie wirklich ein Zuhause. Das war hart, und es brachte unnötige Angstzustände mit sich.“ Möglicherweise war das Undeterminierte, das Expansive in ihrer Stimme eine Antwort auf die Notwendigkeit, einen solchen Lebensraum im Kunstwerk zu schaffen.

Guest studierte an der UCLA, später in Berkeley, und sie erhielt ihren B.A. 1943. Nach dem Krieg zog sie nach New York, heiratete 1949 Stephen Lord Haden-Guest und im Jahr 1954 Trumbull Higgins, der ein Professor für Militärgeschichte war. Sie zog zwei Kinder auf: Hadley Guest und Jonathan Higgins. Sie schrieb Kunstkritiken und war Redakteurin für Art News von 1951 bis 1959.

Ihr erster Gedichtband erschien 1960 im Verlag der Galerie Tibor de Nagy. Die Sammlung hieß The Location of Things und verortete Barbara Guest defacto inmitten des Dunstkreises der New Yorker Lyrikszene, was die Rezeption ihres Werks in Teilen beförderte, zum Teil aber auch behinderte. Im gleichen Jahr stellte ihr Kommilitone aus Berkeley Donald Allen in seiner wegweisenden Anthologie The New American Poets Guests Werk in Zusammenhang mit der New York School. Von den 65 Beiträgern der zwei wichtigsten Anthologien zur amerikanischen Lyrik jener Jahre (die eine 1960 von Allen zusammengestellt, die andere 1962 von Donald Hall) war Barbara Guest eine von nur fünf Frauen.

In den folgenden Jahren veröffentlichte sie Poems (1962) und The Blue Stairs (1968), gefolgt von Moscow Mansions (1973), The Countess from Minneapolis (1976) und The Türler Losses (1979). Guest schrieb außerdem einige Theaterstücke, die in New York im Artists Theatre und im American Theatre for Poets aufgeführt wurden sowie einen Roman Seeking Air (1978).

In einem Interview mit American Poetry Review im Jahr 1996 verglich Guest ihren Schaffensprozess mit dem der abstrakten Expressionisten, die davon überzeugt waren, dass „das Thema sich selbst fundet“. Bei der Lektüre von Guests kunst-essayistischen Schriften wird klar, dass ihr Verständnis von Malerei aus ihren eigenen Schreibprozessen abgeleitet ist (und diese somit in der Retrospektive erhellen könnten). Sie schrieb, dass Helen Franken­thalers Gemälde „Landschaften des Inneren“ seien und positionierte die Malerin „an den Rändern des Universums“. Die konven­tionellen Beziehungen zwischen Subjekten und Objekten, zwischen Realität und Imagina­tion aufzustören, ist eine von Gue­sts charakte­ristischsten Bewegungen. So heißt es bei ihr, dass Franken­thaler „die Natur zwingt, die Kunst zu imitieren“ (Dürer in the Window).

In den Händen Guests kann Kunst etwas über sich selbst aussagen ohne pedantisch zu werden; sie kann in den Doppel­bödig­keiten der Wahr­nehmung aufgehen ohne sich zu verheddern. Ihre Gedichte evozieren zumeist die Freude des Gefundenwerdens. Nichts anderes als Zärtlichkeit drückt sich in Guests Fähigkeit aus, Erfahrung als Kompositionsprinzip an sich anzusehen, sie in respektvoller Distanz aufzunehmen, so wie man ein Kunstwerk betrachtet; anders gesagt kann gelebte Erfahrung trianguliert und vermischt werden eben durch ein Kunstwerk wie in einem Gedicht wie „Roses“ mit seinen Bezügen zu Gertrude Stein und Juan Gris oder in Guests meisterhaftem Gedicht „The Nude“. Ihre Gedichte weisen auf eine langjährige Beschäftigung mit literarischer und künstlerischer Tradition, weniger durch die Etablierung allusionsreicher Signale noch durch die Offenlegung und Untersuchung der Schwierigkeiten, die Werke der Imagination stets mit sich bringen.Sie fühlte sich heimisch im Modernismus, war stark beeinflusst durch den Imagismus H.D.s sowie durch andere Manifeste der Hochmoderne (einschließlich Surrealismus und Dada). Guest entnahm sich aus dem Imagismus den Sinn für die zusammengezurrte Geschichte der Objekte und Worte und wie solche Techniken in ein Gedicht „eingebaut“ werden konnten. In gewisser Weise ist Guests Werk eine natürliche Weiterentwicklung des Imagismus in einen abstrakten Expressionismus in der Literatur, insofern als dass, sobald ein Bild nichts weiter ist als ein Fragment eines größeren Felds, es folglich abstrakt wird. Es trägt Züge eines menschlichen Kontextes, doch ist es nicht ohne weiteres in einer spezifischen Zeit oder an einem bestimmten Ort zu lokalisieren. Für Guest „beginnt ein Gedicht mit Stille“ nicht mit Geräuschen und es wird unmerklich in eine Polyphonie mit den eigenen Echos geführt (FI, 20).

Barbara Guest verfügte über eine Integrität, die sie dafür prädestinierte, die Wahrheit so zu beschreiben, wie sie sie sah, und Gedichte so zu schreiben, wie sie es für richtig hielt und zwar auch dann, wenn sie sich gegenläufig zu populären Trends verhielten. Als die Frauenbewegung an Einfluss gewann und ihrem Werk einen gewissen Kontext hätte verleihen können, vermied sie offen polemische und politische Dichtungen — obwohl es angebracht scheint zu erwähnen, dass sie nahezu ein Jahrzehnt lang an der Standardbiographie ihrer großen modernistischen Vorgängerin H.D.schrieb: Herself Defined (1984).

Ihre späteren Gedichte waren oftmals von dem Willen gekennzeichnet, antagonistische Dualitäten zu überbrücken. Deutlich wird dies vor allem in zwei ihrer einflussreichsten Bücher Fair Realism (1989) und Defensive Rapture (1993). Selbst ein Titel wie „Wild Gardens Overlooked by Night Lights“ impliziert einen Schauder vor den Kräften der Natur (Wildnis) und dem Kultivierten (Gärten). In der glänzenden Kontrolle von Rahmung und Nebeneinanderfügung, zur Erzielung einer emotionale Intensität durch narrative Komprimierung, ist das Gedicht beispielhaft für die Höhenflüge zeitgenössischer Dichtung. Man hält Guest zunächst nicht für eine narrative Dichterin, und doch sind ihre Gedichte durchzogen mit dramatischen Spannungen, voller Verwicklungen in unsichtbare, imaginäre, phantasma­gorische Elemente, mit unerklärlichen Wendungen und einem mysteriösen Sinn für das Unausweichliche. Ihre jüngsten Gedichte in Rocks on a Platter (1999), Miniatures (2002) und The Red Gaze (2005) wie auch ihre nachgelassenen Gedichte führen den Leser unmerklich von einem Reich in das andere.Wie in Wallace Stevens späten Gedichten werden die Grenzen zwischen Realität und Imagination aufgehoben.

Guest sprach eloquent von Geheimnissen, von Dichtung und ihrer spirituellen Dimension, ein Thema das ihre jüngeren Prosasammlungen Dürer in the Window; Reflexions on Art (2003) und ihr meisterhaftes Forces of Imagination: Writing on Writing (2003) durchzieht. Sie schrieb, dass eine „Vision Teil des spirituellen Lebens einers Dichters ist, von dem das Gedicht selbst ein Resume zieht“ (FI, 27). Das Gedicht „sollte nicht programmatisch oder didaktisch oder prahlerisch“ sein; vielmehr solle man „in das Gedicht hineingehen und am Anfang der Reise im Dunklen stehen“ (FI, 80). Ihre Äußerungen zur Dichtung waren direkt („Respektiere deine private Sprache“) und bisweilen so praktisch wie ein Überlebensratgeber („Wann immer du in Schwierigkeiten steckst, verlass Dich auf die Imagination“) (FI, 78/79). Immer war eine Ahnung um die Aufladung der Dichtung implizit — deren Energie und Intensität, aber auch ihre Verantwortung — und das Verständnis darum, dass Schreiben in vielerlei Hinsicht ein Spiel mit dem Feuer ist:

Die Kräfte der Imagination aus denen Stärke gewonnen werden kann, haben eine zerstörerische, launische Macht.Wird der Imagination zu frei gefrönt, kann sie wild ausschlagen und zerstören oder dem Künstler Schaden zufügen...Wenn sie ungenutzt bleibt, kann sie verkümmern. Baudelaire erinnert uns ständig daran, dass die Magie der Kunst unzertrennlich mit ihren Risiken zusammenhängt... (FI, 106)

Sie war angstfrei und mit jenen, die sie kannten, scharfsinnig und unverblümt. Ihr letztes Buch The Red Gaze endet mit einem Satz von Theodor W. Adorno: „In jedem genuinen Kunstwerk erscheint etwas, was es nicht gibt.“ Das ist die promethische Macht, die Guests Gedichte nie aus den Augen verlieren und die auf ihre Weise unsere Welt verändert.

— Peter Gizzi

Aus: Fallschirme, Geliebter. Ausgewählte Gedichte. luxbooks, 2008

Barbara Guest    29.12.2008
 

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Lyrik