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Marion Poschmann
Geistersehen

Das Vage in strenger Form gebündelt
  Kritik
  Marion Poschmann
Geistersehen
Gedichte
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010


Marion Poschmanns Mitte April letzten Jahres erschie­nener Gedicht­band Geister­sehen beginnt vage, dunkel und unruhig; man hat den Eindruck, als würde sich die Autorin Gedicht für Gedicht an ihre Themen, oder etwas vorsich­tiger gesagt, an (noch) mögli­che Bilder herantasten. Das erste Kapitel heißt Testbilder. Und schon im allerersten Gedicht darin verrutschen die Gegenstände und die Welt scheint sich im Fluss, ja geradezu in der Auflösung zu befinden.

in der Fußgängerzone kam Wind auf
wie immer Wind aufkommt bei der Suche
nach jenem richtigen Ort der sich stets
weit entfernt zeigt, die Abfallpapiere
am Boden verrutschten, mein Mantel
flatterte, und, als wäre dies schon ein Grund
mich selbst zu den Dingen zu zählen
als wäre dies schon ein Grund
blieb ich ungefragt stehen

Die Autorin findet von Anfang an starke und neue Bilder für das Flüchtige, nicht Festzuhaltende. Das Unbeständige ist nicht nur die Außenwelt, das Dingliche (also materiell Erfahrbare), sondern auch das lyrische Ich selbst (als Nicht-Ding?) darin wird auf einmal zur relativen Größe, wird in 4 anfänglichen „Testbildern“ selbst zum Test-Objekt. Ein Du ist wie zufällig vorhanden und genauso schnell wieder nicht vorhanden. Dabei haben die Bilder weder den hierfür oft bemühten post­existen­tialis­tischen noch den daseins­pessimis­tischen Grundtenor; jegliche esote­rische Mystifikation wird klar gemieden.

Was stattfindet, ist lediglich ein Infragestellen des Sichtbaren. In Poschmanns neuer Lyrik wird einem schlagartig (und vielleicht auch ein wenig schmerzhaft) bewusst, inwieweit alles Existierende nur ein flüchtiges, ephemeres „Spiel“ ist. Von Anfang an rutscht der Blick ab und es entsteht somit ganz von selbst eine beträchtliche Skepsis an jedweder behaupteten Beständigkeit. Damit werden die Dinge ganz objektiv auf ihren Platz gerückt - denn was bleibt, wenn alles in die Unschärfe, in seine Unschärfen entschwindet? Und wo eigentlich ist der Übergang von der sinnlich erfahrbaren zur Welt der Gedanken? Was ist real, was ist Vision? Was bleibt? Bleibt überhaupt etwas? Ist die Wahrnehmung des Realen um uns herum nicht überhaupt nur ein Geistersehen?

Plato hat die Welt geteilt in die Dinge und ihre Ideen. Bei ihm sind die Dinge nur Abziehbilder der eigentlichen Ideen. Was sich bei Poschmann abbildet in Schatten, Lichtreflexen, Silhouetten und „Rorschachmustern“, ist anfangs ein Vexierspiel mit Lichtbrechung und -spiegelungen; „ein zitterndes Lagerfeuer, / das wir durch eine Glaswand beobachten“ lässt an Platos Höhlengleichnis denken; temporäre Lichtphänomene auf Glas und Spiegel markieren die Unzuverlässigkeit des Sichtbaren: Erscheinungen, die „auf einem überbelichteten Film“ „flimmern“. Im Fokus stehen Spiegelungen, der Schein des Lichts auf transparenten Objekten, „Glaslicht“, „was über den Randstreifen flackerte“. Die Welt löst sich auf; das Materielle ist nichts anderes als Rauch, Scheme und bizarres Trugbild.

Just Plato brachte in seinem Dialog Ion auch das Gespaltensein des Künstlers auf den Punkt: im Widerstreit liegt das Gedanklich-Rationale, was durch Bildung erarbeitet werden kann und das Inspiratorisch-Irrationale. Der Seher und Be„geist“erte poeta vates steht so dem Denker und Welterfasser poeta doctus gegenüber. Der eine schöpft begeistert aus seiner (göttlichen?) höheren In„spir“ation, der andere mittels kühner Gedanklichkeit aus dem Schatz seiner Bildung und Intellektualität. Daneben gibt es noch den virtuosen Handwerker und technisch versierten poeta faber. Dieses sehr alte Thema greift Marion Poschmann mit Bravour neu auf, angelehnt an die Tradition des poeta vates. Dabei gelingen ihr durchaus neue Aspekte - in einem Tonfall, der - ebenso wie die beschriebenen rauchhaften Phänomene - leicht bleibt. Hierbei wird die Undurchschaubarkeit selbst das Thema der durchweg gelungenen Texte.

Es braucht „etwas wie Suchbewegungen“, um in der unscharfen Welt noch irgendeine Verortung des Flüchtig-Diffusen erhaschen zu können. Hinter dem Sichtbaren, das verwischt und sich auflöst, steht das eigentlich Unsichtbare, das Unergründliche: das Ich in all seiner Unerforschbarkeit. Was weiß man schon von der Welt? Man hat nur sich; alles spiegelt sich in einem - auf der Oberfläche und den Abgründen des eigenen Selbst.

sofern es mich hier gab, in diesem Raum voll Schäumen
war ich ein Badewahn vor weißer Kachelwand
und meinem Spiegelbild. es schien mir unbekannt.
ein heller Widerstand in unsichtbaren Träumen.

So beginnt das alexandrinische Sonett vage Einsichten im 3. Kapitel Spiegelungen, das weiter unten die Frage aufwirft: „wie wäscht man Spiegelbilder?“ Marion Poschmanns „lyrisches Ich begibt sich an den Punkt der Unschärfe und beobachtet von dort, wie Wirklichkeit entsteht und sich wieder auflöst“, heißt es im Klappentext, und weiter unten lesen wir: „Ihre Gedichte Handeln vom Überschwang der Bilder und von dem, was diese Bilder verdecken.“

„damals wollte ich noch / eine Wolke werden“: Wolken sind immer schon ein Motiv in Marion Poschmanns Dichtung. Es wird versucht, eine sinnliche Nähe herzustellen; im Text „unter Wolken“ heißt es: „sie waren hier beinahe tastbar, ein dunkler Extrakt, / (…) sie streiften uns fast in diesem Flieder-, / in diesem Lavendellicht (…) wattig und tintentriefend glitten sie über die / Rhythmen der Straßen­beleuchtung hinweg“. Dabei werden die „unerreichbare Bläue, Bläulichkeit, winzige Reservate romantischer /Sehnsucht“. Das lyrische Ich fragt sich: „war ich nicht ein Destillat dieser /Abendluft?“

Marion Poschmann steht für Gedichte, die sich spielerisch mit alten Versformen beschäftigen. Schon in ihrem Gedichtband Grund zu Schafen und in ihren Badeoden befasste sie sich ausgiebig mit antiken Odenstrophen. Hinzu kommen nun 6-hebige Sonette mit Mittelzäsur, auch Alexandriner genannt. Bereits im zweiten Kapitel „Störbilder“ formiert sich etwas, kündigt sich in 14 Zeilen rein formal als Sonette an, teils nach shakes­peareschem Muster (3 Quartette, 1 Zweizeiler). Beinahe ungewollt entstehen Fast-Sonette und haben schon so etwas Ähnliches wie Verse und Hebungen. Der vorwiegende Teil des nachfolgenden Kapitels Spieglungen besteht aller­dings aus Oden: die Gedichte sind immer 4 alkäische oder asklepiad(e)ische Odenstrophen mit einer an vorletzter Stelle einge­scho­benen sapphischen Strophe, wobei der Eingang­trochäus, wie auch in Texten von Harald Hartung, manchmal zum Daktylus wird – hier allerdings in der klassischen Form, der Endreim scheint zufällig:

nebelbeinig, hatten wir Schuhe, Straßen
hinter uns gelassen, verloren weiter
Körperteile, ließen Konturen fahren,
die wir sonst waren –

Poschmanns Gedichte sind seit jeher sehr metrikaffin; es sind Texte für Liebhaber, die sich nicht nur für antike Oden begeistern. Ihre Dichtungen, denen Versmaß zugrundeliegt, umfassen dennoch allenfalls ein Fünftel des gesamten Buches. Der überwiegende Teil des Buches sind Gedichte in freier Form. Nur im letzten Kapitel finden sich noch zwei Sonett(versuch)e an, von denen der eine fast wie zufällig in der perfekten, virtuos geglückten Form des Alexandriners stehenblieb. Hier wirkt das Vage in strenger Form gebündelt.

Dabei rückt das Alltägliche niemals aus dem Blick. In den Gedichten finden sich Kühlschranktür, Verkehrszeichen, Ampelsignale, „Autobahnabhang“ und „Super­markt-Kühl­regal“ neben „lichtempfindliche[n] Wäldern[n]“; im Alltagsjargon hütet das lyrische Ich die „Kippen und Stiele von Speiseeis“, werden „elektrifizierte Reliquien“ in Unterführungen „umschwirrt von Fliegen und Pißgeruch“, steht Landschaft, die „bis zum Anschlag geraum, bis zum Abwinken offen“ ist.

Artemisia absinthium (Wermut)

stromkastengrau,

wie eine Fußgängerzone am späten Nachmittag
mit ihrem hellen Betonsteinpflaster, in dessen Fugen

die Leere wie Wasser steht, Leere, welche mäandert
eckig voranrankt, Winkel schlägt und unfaßbar bleibt

für den Verstand

Ein Gedicht aus dem Kapitel Trugbilder: Herbarium. Ein Herbarium ist eine Samm­lung getrock­neter und gepresster Pflanzen(teile) für wissen­schaftliche Zwecke, es dient zur Her­kunfts­bestimmung, Zuord­nung und dem regionalen Beleg für Pflanzen­vorkommen.

In manchen Gedichten geht es tatsächlich um Geister und „das sachte / Verrücken von Briefbeschwerern, kugligen Glasgewichten“: „ich saß wie / in einer gigantischen Schneekugel, fröstelte, / während die Toten, die man memorierte, das / Zimmer durchschneiten. Später, im Text Thomas Mann beim Baron von Schrenck-Notzing, wo eine Séance beschrieben wird, „saß man selbst (…) als schwankendes Taschentuch mitten im Raum. schaukelnde / Ichheiten, kichernd und nicht mehr ganz unbeteiligt, daß etwas ans Licht kommt, was nichts ist / als Licht“. Selbst das „Nachbild der Glühbirne / auf der schwarzen Wand“ ist Lichtphänomen und Geist in einem. Immer wieder wird das Licht und seine Phänomene beschworen, verüben die Aggregatszustände des Wassers seine Brechung: „der bleiche Wasserdampf“weiße Dinge im Dunst: Dinge verdunsteten. / Leere, bildergefüllt“, im Kapitel unscharfe Jahreszeiten gibt es einen Text mit dem Titel „Schall und Rauch“, „ganze Tage zerrinnend, verflimmernd /als Bildschirmschoner, als Blätterfall“, „wilde Graustufen“, „ein grauer Gegenstand, um den die Nebel glitten.“ In den „rosenfingrigen / Schichtwolken“ klingt Eos' Schönheit an, der Göttin der Morgenröte, ein häufiger Ausdruck Homers. Anderswo wird das lyrische Ich „Augenzeuge, wie / eine Verkehrsampel umspringt“. „Glasbausteine / fragmentieren dich zu großen dunklen Flocken“.

Marion Poschmann findet in diskursmischenden Sprachebenen eine erstaunlich klare Ausdrucksform für das Diffuse und Unstete. Die grundlegende Skepsis an allem Dinglichen umfasst ihre eigene Sprache nicht: diese ist sicher, selbstbewusst. Immer glücken der Autorin neue Worte, wo anderen Dichtern beispielsweise eine unüberwindliche Lücke zwischen Signi­fikant und Signifikat klafft. Auch mittels sehr origineller neuer Wortkombinationen, sogenannten Komposita wie Gedächt­nis­fälte­lung, Speifiguren, Seifen­blasenräume, Halb­schlaf­becken, Privatwolke, Jahres­scheiben, Gemüts­design, Blickruine oder Blatt­kon­fetti, benennt die Au­torin ge­konnt, was sie benen­nen möchte. Häufig konsta­tieren Gedichte in der Ver­gangen­heits­form bereits Gesche­henes, wodurch einerseits Distanz zur Gegenwart erzeugt wird, anderer&seits sich Bilder und Ereignisse, die bereits zur historischen Tatsache erstarrt sind, dem Zugriff und dem Eingreifen des lyrischen Ich entziehen.

Innenkondensation, hoher Bedeckungsgrad.
Ich blieb wegretuschiert. Was uns die Sicht verbarg,
war das Sichtbare; und wir
kontemplierten das Ding aus Dunst.

Marion Poschmanns Gedichtband Geistersehen ist insgesamt wohl­konzipiert und verfolgt durch­weg eine klare Linie, die allein schon durch die Kapitel­über­schriften markiert wird. Testbilder, Störbilder, Spiegelungen, unscharfe Jahres­zeiten Trug­bilder: Herbarium, die Geister­seher, Nachbilder: Kanäle, Bildnisse, Lehrpfad der Abwesenheit.

Insgesamt ein Buch, dem man sich von vielen Seiten nähern kann und nähern muss, das – gleichsam wie die von ihm beschriebenen Licht­phänomene – viele Seiten hat. Es steckt so viel darin, dass eine Bespre­chung nicht ansatz­weise alle Aspekte seiner vielen Gegenstände fassen kann. Sein Ziel ist womöglich das, was im Englischen enlightenment heißt und im Deutschen mit Aufklärung übersetzt wird. Ein Buch, das durch gran­diose Wort(er)findungen besticht; das in seiner tief­gründigen Suche nach dem Eigentlichen „in kalten Selbst-Gefilden“ nach­haltig irritiert; das sich nicht zufrieden gibt mit einmal gefun­dener Klarheit oder gar einer ein­dimen­sionalen Erklärung der sichtbaren Welt – die heute ohnehin nicht mehr zu haben ist. Klarheit ist nur in der Sprache. Ein Buch, das weiß, dass Blicke scheitern.

als käme Klarheit auf. als öffneten sich Fenster
auf das, was war, auf nichts. Erinnerungsgespenster,
zu ungreifbar, zu zart. die Blicke scheitern hier.

Ein Buch, das Fragen aufwirft, denen man sich stellen muss. Ein Buch, aus dem man in jedem Fall anders hervorgeht.

Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, studierte Germanis­tik, Philo­sophie und Slawistik in Bonn und Berlin. Sie schreibt Lyrik und Prosa. 2005 erhielt sie den Literaturpreis Ruhrgebiet für ihr Gesamtwerk. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Berlin.


Armin Steigenberger   15.02.2011   

 

 
Armin Steigenberger
Lyrik