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Antonín Dick
Welcher Antifaschist erfand nochmal die Dokumentardramatik?

Hans Arno Joachim zum 110.

  Deutschland übelnehmen


In den 1920ern geißelte Hans Arno Joachim nicht nur die Zumutungen einer »korsettierten Epoche«, sondern auch einige ihrer erklärten Gegner: »Die Gesell­schafts­kritiker haben nicht die Kritik verloren. Sondern sie haben die Gesell­schaft verloren.« Das Grunder­lebnis dieses Intel­lektuel­len war das Schweigen derer, die den Krieg mit­ge­macht hatten, darunter sein älterer Bruder: «Die Entwicklung stockte; wir liefen leer. Denn es fehlte uns an Gegensatz. Wir waren ohne Vorgänger.« So kam Joachim dazu, die Voraus­setzungen eines Streit­gesprächs zu bedenken. Die wilhelmi­nische Zwangs­vor­stellung, »Wider­stände (n) Herr zu werden«, sei von den Teil­nehmern vorher abzu­schütteln. Im übrigen gelte »Gleich­heit vor dem Feinde«, denn: »Wo man verachtet, kann man nicht kämpfen.«

Geboren am 3. Mai 1902 in Freiburg im Breisgau, studierte Joachim von 1920 bis 1927 mit Unterbrechungen an der dortigen Univer­sität deutsche Philologie. In dieser Zeit schrieb er Gedichte, Erzählungen, entwarf Dramen. 1924 veröffentlichte die Frankfurter Zeitung seinen ersten Essay. Joachim gehörte lite­rarischen Zirkeln an, pflegte Kontakte zu Redak­tionen, wurde für Freunde zu einem Mentor. Viel Zeit verbrachte er mit Alfred Kantorowicz und Peter Huchel. Die drei diskutierten in Freiburg nächtelang über Literatur und Philosophie, absolvierten gemeinsam ein mehrmonatiges Selbststudium in Paris und der Bretagne. 1930 zogen sie in eine kleine Wohnung am Berliner Bülowplatz, einem Zentrum der hauptstädtischen Klassen­aus­einander­setzungen. »Unsere Gespräche hatten ihre Leichtigkeit verloren, waren härter geworden; das anschwellende Heer der Arbeits­losen, der bedrohliche Zuwachs der Nationalsozialisten, die all­gemeine Politisierung und Radikalisierung stellten auch uns vor Fragen, denen wir bis dahin ausgewichen waren«, erinnerte sich Kantorowicz später, der sich in dieser Zeit der KPD annäherte.

Joachim brachte seine Dissertation zum Abschluß, publizierte Essays über den ameri­kanischen Gesellschafts­roman und anderes. Er propagierte Feuchtwanger, Glaeser, Kisch, Renn und Zweig. Unter den Manuskripten, die er redigierte, war eine Erzählung Huchels über die Wandlung eines Naziverführten. Huchel und Kantorowicz zogen dann in den »Roten Block« am Lauben­heimer Platz in Berlin-Schmargendorf, eine Siedlung des Schrift­steller­verbandes. Joachim und seine Ehefrau, die Graphikerin Gerta Aufrichtig, kamen im Nach­barbezirk Steglitz unter. Der Dreibund wurde erweitert um Carola und Ernst Bloch, Fritz Sternberg sowie Gustav Regler und dessen Frau Marieluise, Tochter von Heinrich Vogeler.

Am 1. November 1932 wurde Joachims Lichtenberg-Hörspiel »Der Philosoph am Fenster« gesendet und als erstes akustisches Kammerspiel gefeiert. 1933 floh er mit seiner Frau nach Paris. Dort beteiligte er sich an der Gründung des Schutzverbandes Deutscher Autoren (mit Kantorowicz, Anna Seghers, Ludwig Marcuse und anderen Exilanten). Neben der Aus­einander­setzung mit dem Faschismus verwandte Joachim sein Können auf die Entwicklung der literarischen Gattung Dokumentardramatik. Er konzipierte einen Hörspiel-Zyklus zu Ulrich von Huttens Streitrede gegen Zensur und Bücherverbrennung, Friedrich Nietzsches Kontro­verse mit Richard Wagner und seiner totalitären Musik, Victor Hugos Aufstand im Exil gegen die Diktatur Louis Bonapartes und einigem mehr. Fast durchgängig arbeitete Joachim dabei mit Originalzitaten. Angelegt waren die Dramatisierungen nach seinem egali­tären Verständnis vom Widerstreit: öffentliche Verhandlung, Angeklagter, Ankläger, Zeugen, Vertei­digung. Die Struktur antiker Dramen. Montiert für den Rundfunk nach Art des Romanciers John Dos Passos, die dieser vom Film adaptierte. Die Hörspielarbeiten von Seghers und Brecht wären ohne Joachim kaum denkbar gewesen. In den 60ern war das von Joachim mit­begründete Genre in allen Medien weltweit durchgesetzt.

Er schaffte nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazis trotz Hilfen die Flucht nach Amerika nicht. Womöglich hätte sein geplanter Emi­granten­roman einen Wink zum Verstehen dieser Tragödie geben können. »Der deutsche Philosoph im Exil. Seine Position ist tra­gisch«, heißt es im Exposé. »Er muß Deutschland gerade seine Philosophie übel­nehmen – ihre gigantische Leistung an Idealismus, die er heute anerkennt: als eine faus­tische Schurkerei, Schwindel des Geistes, Escamotage der Wirklichkeit, wie sie noch in keinem anderen Land geleistet worden ist. Der Mann muß die Tugenden seines Vaterlandes bekämpfen.«

Am 15. Februar 1944 wurde Hans Arno Joachim im besetzten Frankreich von der Gestapo als »Unreiner« verhaftet und zur Nummer 411 auf der »Abschubliste« für den Transport Nr. 70, mit dem am 27. März 1025 Menschen, darunter 109 Säuglinge und Kleinkinder, vom Sammel­lager Drancy nach Auschwitz verbracht wurden. 125 überlebten. Joachim war nicht darunter.

Zuerst erschienen in © Junge Welt 2012

Antonín Dick    25.05.2012   

 

 

 
Antonín Dick
Lyrik/Prosa
Essay