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Anna Schöning
Molch


„Molch“ war das erste Wort, das mein Bruder sprach. Andere Kinder sagen Ball oder Mama oder Auto oder Papa. Mein Bruder sagte Molch. Er sagte es, als habe er heimlich geübt, mit einer Bestimmtheit in der Stimme, die keinen Zweifel daran ließ, dass er im Moment des Aussprechens ganz und gar mit sich zufrieden war.
  „Bei sieben Grad überwintern sie am besten“, hatte mein Vater gesagt und eine Tupper­dose zum Winter­quartier für den Molch erklärt, den wir im Garten gefunden hatten.
  Das Wort schien meinem Bruder auch unab­hängig von der Amphibie im Kühl­schrank gut zu gefallen: Er knetete es im Rhythmus seiner Schläge – Kochlöffel auf Topf – und ver­wendete es in allen ihm passend er­scheinenden Situa­tionen: „Molch“ klang tröstend, wenn ihm vor Wut die Tränen in die Augen schossen, weil ihm etwas nicht gelang, konnte aber auch Ausdruck puren Entzückens sein, wenn mein Vater ihn in die Luft warf zum Beispiel, das Wort klang sanft und liebevoll, wenn er müde meiner Mutter auf den Schoß klet­terte. „Molch“, flüsterte mein Bruder, wenn er unter dem Hochbett auf seiner Matratze schon fast schlief, „Molch.“
  So kam er zu seinem Namen.
  Während der Beerdigung blies der Wind trockene Blüten über den Fried­hofs­weg, ich weiß nicht von welchem Baum, sie sammel­ten sich in der Ecke zwischen Erde und Grabstein. „Simon“ stand darauf, es fiel mir schwer einen Zu­sammen­hang herzustellen.
  Unser Weinen, vor allem das Weinen meiner Mutter, ein tränen­loses Weinen, nur ein Ton, der tief in ihrem Inne­ren ent­stand und ihre Lippen aus­einan­der zwang, er­setzte die Geräusche, die mit meinem Bruder ge­gangen waren, doch schlimmer als das Weinen war die Stille, die folgte.
  Ich legte mir die Hände über die Ohren und summte Melodien, um das Nicht­hören zu über­tönen, floh in den Garten, der mir, verwaist und sich selbst über­lassen, leid tat. Mein Vater – von dem meine Mutter früher gern be­hauptet hatte, er habe wohl eine Affaire mit einer Garten­zwergin, sie bekomme ihn gar nicht mehr zu Gesicht – kümmerte sich nicht mehr darum. Erd­beeren und Jo­hannis­beeren reiften, dann die Jochel­beeren, Him­beeren und Stachel­beeren, die Kirschen, die Mirabellen, die Brombeeren, die Pflaumen, Birnen und Äpfel, nur, um in der gleichen Reihenfolge wieder zu verfaulen.
  Mein Vater saß im Arbeitszimmer und hämmerte auf die Tasten seines Lap­tops ein. Ich stand im Tür­rahmen und sah ihm zu. Wenn er an seinen Artikeln schrieb, durften wir ihn nicht stören.
  Ich glaube nicht, dass mein Vater meiner Mutter je einen Vorwurf gemacht hat. Andere schon, das ja, aber nicht mein Vater. Ich glaube, er fühlte sich ebenso verantwortlich wie sie, auch wenn sie und nicht er im Haus war, als es passierte. Sie hatten einen Zaun bauen wollen und es immer wieder verschoben. Die Bretter lagen Jahre gestapelt hinten im Garten. Mein Bruder und ich kletterten darauf herum, immer mit der Warnung im Ohr, nicht zu dicht am Fluss zu spielen.
  Nach der Beerdigung fragte mich die Lehrerin vor der Klasse, ob ich darüber sprechen wolle. Ich saß auf meinem Stuhl und hielt einen Brief­umschlag in den Händen mit einer Beileidskarte darin, die Eltern einer Freundin von mir ge­schrie­ben hatten. Auch während der Andacht in der Turn­halle, hielt ich den Umschlag in den Händen und später, während der Schweige­minute, hielt mich daran fest, bog ihn hin und her, bis er krumm und zer­knautscht war.
  „Wir wollen“, sagte meine Lehrerin, „etwas schönes für ihn basteln“, und forderte uns auf, lang­stielige, noch nicht auf­gegangene Pusteblumen zu pflücken. Diese hängte sie an langen Fäden unter die Klassendecke. Es dauerte drei Tage, bis die Blumen sich in der Sonne öffneten und weitere drei, bis die Samen durch das Klassenzimmer flogen und sich an den Gegenständen und in den Haaren fingen.
  Ich erzählte meiner Mutter davon, sie stand mit einem Tee­beutel in der Hand in der Küche, ließ ihn über der Tasse baumeln mit Wasser darin, welches schon lange nicht mehr heiß war. Ich stupste sie an.
  „Mama“, sagte ich.
  Da senkte sie den Beutel ins Wasser, lächelte mich an, strich mir über den Kopf.
  „Meine Große“, sagte sie, nahm die Tasse und setzte sich ins Wohnzimmer. Dort saß sie und ver­suchte zu verbergen, dass sie das Lesen verlernt hatte, auf ihrem ange­stammten Platz in der Ecke des Sofas, Wollsocken an den Füßen, die Brille ganz vorn auf der spitzen Nase, zauste an ihren Haaren und wenn sie daran dachte, blätterte sie von Zeit zu Zeit eine Seite um. Mir fiel auf, wie groß ihre Augen geworden waren.
  „Sie schafft es nicht allein“, sagte mein Vater, bevor er sie wegbrachte. Er verwendete dieselben Worte wie alle anderen, um zu erklären, was auch er nicht verstand. Meine Mutter küsste mich zum Abschied.
  Es gab Wochen, in denen sie wieder nach Hause kam.
  „Bleibst du jetzt“, fragte ich sie jedes Mal.
  „Ich weiß nicht“.
  Im mutterlosen Haus bewegte ich mich, als wäre die Luft etwas Zähes, durch das man sich hindurch ar­beiten müsse. Einmal ertappte mich mein Vater, wie ich auf allen vieren so langsam wie möglich die Strecke zwischen Küche und Bad zurücklegte. Ich dachte dabei an den Molch. – Vorsichtig hatte mein Vater die mit feuchten Blättern gefüllte Tupperdose im Gras nahe des Wassers umgedreht. Der Molch erschien uns staubig, die Haut wie aufgeraut, an seinem Schwanz klebten Fasern. Ganz lang­sam hob er ein Bein und machte einen Schritt, wobei sein Körper einen leichten Bogen beschrieb. Wir sahen die rosige Fußfläche und die durchscheinenden Zehen, die er spreizte, bevor er sie auf den Boden setzte. Seine Bewegungen waren von großer Präzision.
  Im Garten suchte ich ihn, konnte ihn aber nicht finden.
  Ich saß unter den Ästen der Tannenhecke. Wenn alles andere Grün sich schwer vom Morgentau beugte, war der nadel­bedeckte Boden dort trocken. Ich legte mich auf den Rücken. Im Geäst baumelte unser Joghurtbecher-Telefon. Die Hecke war Teil der Grund­stücks­grenze. Im Schatten auf der anderen Seite standen eine Holly­wood­schaukel, ein Tisch und mehrere Plastik­stühle. Ich sah die geblümten Überzüge der Stühle, sah im Laufe des Tages nackte Unterschenkel, dicke Fußgelenke, sah ein Stück Erdbeertorte fallen.
  „Aber der Vater gibt sich große Mühe“.
  „Wenn sie den nicht hätte“.
  „Das arme Kind“.
  „Das arme Kind“, sagte auch die Stimme meines Onkels hinter der ge­schlos­senen Küchen­tür, während ich barfuß und auf dem Weg zum Klo auf dem Flur stand. Ja, dachte ich, das arme Kind, armer Molch. Ich dachte an den Stein auf seinem Grab, auf dem ein falscher Name stand und daran, dass er dort unter der Erde lag, im Dunkeln, ganz allein, und dann legte ich mich zurück ins Bett und weinte. Später kamen sie in mein Zimmer, meine Tante und mein Onkel und als sie merkten, dass ich wach war, durfte ich im Wohn­zimmer meinen Kopf in ihren Schoß legen und meine Füße auf seine Oberschenkel. Sie strich mir die Haare aus dem Gesicht und er zog abwechselnd an all meinen Zehen. So schlief ich ein. Wo war mein Vater in diesem Moment?
  An Samstagen besuchten wir Mama. Zwei Stunden Autofahrt hin und zurück. Mein Vater weckte mich vor der roten Fußgängerampel. Ein Mann trug eine riesige Topfpalme im Nieselregen über die Straße. Sein Mantel blähte sich im Wind, wir sahen ihm nach, bis die Autos hinter uns anfingen zu hupen.
  „Vielleicht hätten wir Blumen mitbringen sollen“, sagte mein Vater.
  Ich stellte ihn mir im Zimmer meiner Mutter vor. Ich sah ihn in seiner Jeans­jacke, er hatte die Hände wie immer in seine hinteren Hosentaschen gesteckt und um seine Füße auf dem Parkett bildete sich eine Pfütze. Neben ihm stand die Palme und neben der Palme ich. Ich sah meine Mutter lachen, „meine begos­senen Pudel“.
  Dann saßen wir da. Meine Mutter in ihrem Stuhl, mein Vater und ich auf dem Sofa. Sie hatte nicht nur das Lesen, sondern auch das Reden verlernt.
  Mein Vater fing an, Verabredungen für mich zu treffen, betrat jedoch nie eines der Häuser, vor denen er mich absetzte. Immer wurde ich erwartet, immer gab es Kuchen und immer schimpften die El­tern mit ihren Kindern, wenn wir nicht zusammen spielten. Wenn wir aber zusammen spielten, gab es Momente, in denen ich vergaß, dass alles anders war. Dann konnte es geschehen, dass ich durch das Gebüsch rannte und dem Schatten hinter mir etwas zurief. Der fröhliche Laut meiner Stimme riss mich aus dem Moment, mein Lachen hallte in meinem Kopf nach. Alle folgenden Geräusche, das Raunen in den Baumkronen, sogar das Vogelgezwitscher, klangen wie eine Zurecht­weisung.
  Ob es mir etwas ausmachen würde, eine zeitlang bei meiner Tante und meinem Onkel zu wohnen, fragte mein Vater irgend­wann mit leiser Stimme und ohne mich anzusehen. Schon am nächs­ten Tag packten wir meine Sachen. Ich ging hinaus und verabschiedete mich vom Garten, von der Hecke, vom Joghurtbecher-Telefon, vom Apfelbaum und suchte weiter nach dem Molch.
  Im Haus meiner Tante und meines Onkels war es niemals still, aus allen anwe­senden Dingen fielen die Worte geradezu heraus, als gäbe es einen heim­lichen, aber wohl­wollenden Streit um die besten Geschich­ten. Ich erfuhr, was ein Korselett ist, dass man Rhino­zeros­hörner, trotz schön­heits­fördernder Wirkung, nicht mehr zu Pulver ze­rmahlen darf, dass die Wikinger „Skol“ statt „Prost“ riefen und das Blut der besiegten Häuptlinge aus deren Schädeln tranken.
  Zum Frühstück erschien mein Onkel – ich vermute mir zu liebe – in karierter Pyjama­hose und einem roten Bade­mantel mit viel zu kurzen Ärmeln, dazu trug er einen Strohhut mit breiter Krempe auf dem Kopf, an dem eine lange Strau­ßen­feder be­festigt war. Er zog mich an den Ohrläppchen und sagte, ich solle nur ja meine Lauscher aufsperren in der Schule, damit ich den Unsinn vom Schwach­sinn unterscheide lerne und ihm später davon berichten könne.
  In meiner Tante entdeckte ich Züge meine Mutter, die gleichen geraden Au­gen­brauen, die gleichen, wenn auch grauen, flusigen Locken; wenn sie lachte, klang es nach früher. Einmal saß sie auf meiner Bett­kante und sagte mit unge­wohn­tem Ernst, sie hätten gern ein Kind gehabt - es habe nicht sollen sein – und wie froh sie sei, dass es mich gebe.
  Zum ersten Mal seit der Be­erdigung stand ich wieder vor seinem Grab. Simon, las ich und dachte an einen Jungen aus meiner Klasse, der Simon hieß. Meine Tante reichte mir eine Primel und eine Schaufel mit kurzem Stiel, mein Onkel zog mir am Zopf:
  „Kennst du eigentlich den Dung-Beetle?“
  Der Dung-Beetle, erzählte er, lebe in Afrika und sei der einzige Käfer auf der Welt, für den Vorfahrtsschilder aufgestellt werden und das zu Recht! Das sei nämlich ein ganz außer­gewöhn­licher Käfer:
  „Der weiß ja, dass die Auto­fahrer höllisch aufpassen, aber denk nicht, dass der seine Kugel einfach so über die Straße kullern lässt, nein nein, der weiß ja, dass da überall Schlag­löcher und LKW-Spuren sind und bevor der seine Kugel aus Versehen irgendwo reinrollt, klettert der erst einmal drauf und guckt sich um!“
  Mein Onkel erzählte auf eine Art und Weise, dass ich alles ganz deutlich vor mir sah. Ich stellte mir einen sehr gewissen­haften Käfer vor, der seine Leiter an eine Mistkugel lehnt, sich oben ange­kommen aufrichtet, seine Insekten­beinchen in die Hüften stemmt und das um seinen Hals baumelnde Fernglas zur Hand nimmt, um in die Ferne blicken zu können.
  Wenn mein Vater mich an den Wochen­enden abholte, damit wir meine Mutter besuchen konnten, hatte ich das Gefühl, dass Tante und Onkel mich nur ungern gehen ließen.
  In der Klinik saßen wir zu dritt auf dem Sofa; mein Vater, meine Mutter und ich. Am Samstag­nach­mittag gab es Tier­doku­men­tationen. Alles war besser als die Stille. Wir sahen einer Affenfamilie, die über mehrere Monate gefilmt worden war, beim Leben zu. Wir lernten ihre Namen und sahen sie nach dem Genuss einer vergo­renen Frucht betrunken, aber glücklich unter einem Baum ein­schlafen und am nächsten Morgen verkatert wieder auf­wachen. Wir sahen ihnen bei der Paarung zu, bei ihren Riva­litäts­kämpfen, bei der Geburt ihrer Kinder und schließ­lich sahen wir sie im Winter. Ihr Fell war dick gewor­den und ich stellte mir vor, wie weich es sich wohl anfühlen mochte. Eine Äffin drückte ihr Kleines an sich, wie ein Stofftier trug sie es mit sich herum, wiegte es, stupste es, schließ­lich zog sie es nur noch an einem Bein hinter sich her.
  „Erst nach vierzehn Tagen lässt Daisy ihr totes Junges auf einem Stein zurück“.
  Es war die letzte Folge. Ich sehe dieses kleine graue schnee­ver­klebte Bündel auf dem Stein liegen und Daisy, wie sie sich nicht trennen kann, hin läuft, weg läuft, hin läuft, weg läuft.
  Ich habe kein letztes Bild. Kein Abschiedsbild. Kann mich an den Tag seines Todes nur undeut­lich erin­nern. Beim Frühstück fiel die Schale mit der Hafer­flocken­suppe vom Tisch, das weiß ich noch. Was ich sehe, sind die Scherben auf dem Boden, ist meine Mutter, die wischt. Dann mein Vater, der sich verab­schiedet, erst von mir, dann von meiner Mutter, dann in den Flur ruft: „Wo ist denn mein Molch?“
  Noch immer sitze ich gern am Fluss, auch im Winter, vor allem im Winter, weil dann kein Blatt den Blick verstellt. Ich sitze gern auf der Wurzel, auf der er und ich gemeinsamen saßen und auf die wir nun zu zweit nicht mehr passen würden. Wozu auch. Ich mag es, wenn die Kälte langsam über das Holz in meinen Körper kriecht, früher hätten sie geschimpft, wenn sie uns so gefunden hätten, – ihr holt euch noch eine Blasen­ent­zündung.
  Der Molch sitzt regungs­los im nassen Laub, glänzend, die Haut schwarz wie auch die Augen. Ich nehme ihn gern ihn die Hand, wenn er mich lässt, der feine Kopf sucht sich Wege aus meiner Faust.
Anna Schöning   2013   

 

 
Anna Schöning
Prosa